Es gibt viele verschiedene Gründe für Frauen, Nikab zu tragen – fragt man zehn Nikab-Trägerinnen nach ihrem wichtigsten Grund, bekommt man wahrscheinlich fünfzehn verschiedene Antworten. Die meisten Frauen haben weit mehr als einen Grund. Im Laufe der Zeit kommen manchmal neue Gründe hinzu, die Gewichtung der einzelnen Gründe verschiebt sich.
Die im Westen häufige Annahme, es gäbe genau einen Grund, Nikab zu tragen, ist jedenfalls falsch. Ebenso die meisten Mutmaßungen, was dieser Grund denn wäre.
Es ist natürlich so, dass es Frauen gibt, die zum Tragen des Nikabs gedrängt oder gar genötigt werden. In Europa ist das allerdings recht selten – es ist oft eher so, dass Frauen, die Nikab tragen wollen, im familiären und sozialen Umfeld gedrängt werden, es nicht zu tun. Manche Männer verbieten es ihren Frauen und Töchtern, oft aus Sorge, für radikal gehalten zu werden, verdächtigt zu werden, die Person zum Tragen des Schleiers zu zwingen oder aber aus Sorge um die Ehefrau bzw. Tochter im Hinblick auf rassistische Reaktionen.
Nach meiner Erfahrung tragen die meisten Mädchen und Frauen ihren Nikab freiwillig und aus innerer Überzeugung, meist aufgrund ihres Glaubens. Längst nicht alle diese Frauen sind extremistisch oder gehören zur Salafiyya.
Die meisten dieser Frauen stammen aus Familien, in denen der Nikab üblicherweise nicht getragen wird. Die meisten Frauen entscheiden sich für den Nikab, obwohl er in der Familie bisher keine Rolle spielt.
Der wohl häufigste Grund, Nikab zu tragen, besteht darin, aus Dank für Gottes Barmherzigkeit seine Gebote halten zu wollen. Diese Frauen tun es aus Liebe zu Gott. Manchmal gibt es einen Auslöser, etwa die Geburt eines Kindes, die Teilnahme an der Haddsch, eine überwundene Krankheit.
Weitere Gründe sind:
- Sich an den „Altvorderen“, den ersten drei Generationen der Muslime (den as-Salaf as-Salih, den ehrwürdigen und rechtschaffenen Vorfahren im Glauben), orientieren
- Die Überzeugung, dass Nikab Sunna (empfehlenswert), Mustahabb (verdienstvoll) oder sogar Fard (Pflicht) ist
- Der Wunsch, durch Befolgen der Gebote einen Verdienst bei Gott zu erlangen
- Der Wunsch, nicht gegen Gottes Gebote zu handeln
- Eine Verbindung zu anderen Frauen, die Nikab tragen (z.B. Mutter, Großmutter, aber auch Frauen aus der Geschichte des Islam), herstellen
- Sich in einer Gesellschaft, die als zu freizügig, zu sexualisiert empfunden wird, bewusst und sichtbar gegen diese Freizügigkeit entscheiden
- Der Wunsch, selbst zu bestimmen, wer was vom Körper sieht
- Persönliches Schamgefühl
- Sich mit dem Nikab vor männlichen Blicken schützen
- Den Nikab als Freiheit empfinden
- Der Wunsch, so akzeptiert zu werden, wie man ist, nicht danach, wie man aussieht
- Manche Frauen fühlen sich mit Nikab einfach wohler als ohne
- Zugehörigkeit zum Islam zeigen
- Autonomie: "Mein Körper, mein Gesicht gehört mir, ich bestimme darüber, nicht die Gesellschaft"
Diese Aufzählung ist nicht abschließend. Viele Musliminnen werden weitere Gründe nennen können.
Persönliche Erfahrung
Mein ursprünglicher Grund für das Tragen des Nikabs bestand darin, mit muslimischen Frauen, die sich verschleiern, solidarisch zu sein. Das war, was Gott mir aufs Herz gelegt hat.
Aber je länger ich den Schleier trage, desto mehr kommen andere Gründe hinzu.Die Solidarität, die ich üben soll, hat in meinem Leben tiefe Wurzeln geschlagen. Viele dieser Gründe gleichen denen, die auch Musliminnen dazu bringt, Nikab zu tragen.
Für mich bedeutet der Schleier Freiheit und Schutz. Ich glaube, dass es gut ist, den Schleier zu tragen – so, wie es schon die Frauen der Bibel getan haben und viele Christen aus früheren Jahrhunderten. Mein Schamgefühl hat sich verändert, seitdem ich den Schleier trage, und ich möchte selbst bestimmen, wer was von meinem Körper sieht. Auch mein Gesicht gehört mir und nicht der Gesellschaft.
Ich fühle mich wohl, wenn ich nach den Regeln lebe, die mit dem Schleier verbunden sind. Es ist zu einem Teil meiner Identität geworden und gehört zu meinem Leben als gläubige Frau dazu.
Der Schleier schafft eine Verbindung zu den Frauen der Bibel und der ersten Jahrhunderte des Christentums, aber auch zu meinen Schwestern im Islam bis zu den Frauen der ersten Generationen des Islam, die ich respektiere als Vorbilder des Glaubens. Dafür muss ich keine Muslimin sein, das kann ich auch als Christin tun.
Mein wichtigster Grund ist: ich möchte das tun, was Gott mir aufs Herz gelegt hat. Ich fühle mich Gott besonders nahe, wenn ich seine Gebote befolge, seinen Willen tue. Ich habe den Schleier von Gott aufs Herz gelegt bekommen. Ich weiß, dass Gott nur das Beste für mich im Sinn hat, also trage ich den Schleier.